24 Nov. DIE PRODUKTION WAR FERTIG ABER DER KUNDE NOCH NICHT
Es gibt Erlebnisse, die vergisst du nicht, weil sie dir in 30 Sekunden mehr über Menschen beibringen als jedes Coaching. Meins kommt aus einer Zeit, als ich ganz am Anfang meiner beruflichen Laufbahn war. Sounddesigner beim Radio, Werbespots für Senderkunden. Klassisches Handwerk, klare Deadlines. Und technisch gesehen war das damals alles ein bisschen anders als heute. Keine Links, keine schnellen Uploads, keine Abnahme per Mail. Die Spots wurden den Kunden in der Regel über ein Telefonhybrid vorgespielt. Jeder, der schon mal versucht hat, Klangqualität über ein Telefon zu beurteilen, weiß, was das ist: ein schlechter Witz. Aber es war Standard.
Und genau in dieser Umgebung gab es einen speziellen Kunden, der berüchtigt war. Anspruchsvoll, kritisch, detailverliebt. Alles nicht schlimm. Weil Anspruch erstmal heißt, dass jemand zuhört. Das Muster war allerdings immer gleich: Erste Version, nein. Zweite Version, nein. Dritte Version, auch eher nein, aber jetzt kommt langsam Land in Sicht. Das war quasi Standard. Für uns in der Produktion bedeutete das: du rechnest automatisch mit zwei bis drei Korrekturrunden, egal wie gut du lieferst.
Dann kommt eines Tages ein Kollege rein und sagt:
„Bassemoluff, das läuft mit dem Kunden immer gleich… Wenn du ihm Version drei vorgespielt hast und er will immernoch was geändert haben, wartest du zehn Minuten, rufst zurück und spielst ihm exakt die gleiche Version nochmal vor.“
Ich habe erstmal ziemlich dumm geschaut. Gleiche Version vorspielen? Ohne Änderung? Klingt erstmal wie verarschen. Oder wie Kapitulation. Oder beides.
Ich habe es mit einem komischen Gefühl dann trotzdem gemacht. Zehn Minuten gewartet, Rückruf, gleiches File nochmal… Was passiert? Der Kunde sagt sinngemäß:
„Ja, super, jetzt isses genau so wie ich es mir vorgestellt habe. Jetzt passt alles.“
Gleiche Version wie davor. Keine einzige Änderung. Nichts. Und für mich war klar: Das ist keine Ausnahme. Das ist Psychologie. Und zwar die Sorte, die du in der Kreativbranche jeden Tag triffst, wenn du genau hinschaust.
Die Frage ist nicht, ob Menschen so reagieren. Die Frage ist, warum. Und was du daraus als Producer, Sounddesigner und generell als Dienstleister lernen solltest.
WIR BEWERTEN NICHT, WAS WIR SEHEN ODER HÖREN, SONDERN WIE WIR ES ERWARTEN
Der erste harte Punkt: Kunden hören deine Produktion nicht neutral. Niemand tut das. Wir sind keine Messgeräte. Wir arbeiten mit Erwartungen, Vorannahmen, Stimmung, Kontext. Wenn Kunden innerlich damit rechnen, dass Version eins noch nicht perfekt sein kann, dann werden sie Fehler finden. Nicht, weil sie lügen oder dumm sind. Sondern weil ihr Gehirn darauf eingestellt ist.
Das ist ein Klassiker in der Wahrnehmungspsychologie. Du siehst, was du erwartest. Du hörst, was du erwartest. Wenn du Version eins vorspielst, ist das innere Skript: „Erste Version ist Entwurf, da muss noch was zu meckern sein.“ Also wird gemeckert. Oft ehrlich gemeint. Er spürt Widerstand, aber der Widerstand kommt aus der Erwartungshaltung, nicht zwingend aus dem Material.
Das nennt man Erwartungseffekt. In der Medizin ist es als Placebo bekannt. In der Audio Welt ist es auch Placebo. Unterschied: Wir reden hier nicht über Zuckerpillen, sondern über Klang.
KLANG IST EIN PSYCHOLOGISCHER VERZERRER
Damals kam noch ein zweiter Faktor dazu, der brutal unterschätzt wird: Der Telefonhybrid. Die komplette Hochtonauflösung ist weg, der Bass ist weg, Dynamik ist weg, Räumlichkeit ist weg. Was bleibt, ist der Eindruck der Stimme und grob, wie laut Musik und Effekte wirken.
Wenn du unter so einer Abhörbedingung etwas beurteilen sollst, bist du automatisch unsicher. Und Unsicherheit macht kritisch. Viele Kunden können das nicht verbalisieren, sie sagen nicht: „Ich kann das gerade nicht sauber beurteilen, weil die Technik Mist ist.“ Sie sagen stattdessen: „Da stimmt noch was nicht.“ Weil sich irgendwas im Gefühl nicht rund anfühlt.
Spannend ist: Sobald du ihm die gleiche Version später nochmal schickst, ist er innerlich schon entspannter. Sein Gehirn hatte Zeit, das Ding zu verarbeiten. Beim zweiten Hören ist die Abhörqualität exakt so schlecht, aber seine innere Unsicherheit ist niedriger. Und plötzlich klingt es besser. Nicht technisch, sondern psychologisch.
MENSCHEN BRAUCHEN DAS GEFÜHL EINEN PROZESS ZU STEUERN
Hier wird es unbequem, aber wichtig: Viele Kunden wollen nicht nur ein Ergebnis. Sie wollen das Gefühl, dass sie beteiligt sind. Dass sie Einfluss haben. Dass sie etwas optimiert haben. In dem Moment, in dem ein Kunde eine Korrektur anfordert, egal wie klein, übernimmt er Kontrolle über den Prozess. Das beruhigt.
Wenn du ihm sofort die perfekte Version lieferst, kann das paradox wirken: zu schnell, zu glatt, zu wenig Raum, um sich selbst als Mitgestalter zu erleben. Also sucht er die Haarspalte, um doch noch eine Schraube drehen zu dürfen.
Die dritte Version nochmal zu schicken, gibt genau dieses Gefühl. Sein Wunsch nach Änderung wurde erhört. Sein Prozessgefühl sagt: Jetzt wurde nachgebessert. Also kann er zufrieden sein. Das Ergebnis ist identisch, aber die Story im Kopf ist eine andere.
ENTSCHEIDUNGSFATIGUE: ZU VIELE WAHLEN MACHEN BLIND
Ein weiterer Punkt, den man in der Kreativarbeit oft sieht: Entscheidungsmüdigkeit. Menschen sind nach mehreren Entscheidungen nicht besser, sondern schlechter. Sie werden sprunghafter, kritischer, vorsichtiger oder einfach nur genervt. Wenn ein Kunde bereits zwei Versionen gehört und kommentiert hat, ist er mental in einem Modus, in dem er nicht mehr objektiv abwägen kann. Er will raus aus der Schleife. Nicht, weil er aufgibt, sondern weil sein Kopf müde ist.
Und dann passiert genau das: Beim dritten oder vierten Mal will er es einfach abhaken. Wenn du ihm jetzt scheinbar eine neue überarbeitete Version gibst, ist das die Erlösung. Er hört nicht mehr so tief. Er spürt nur: Prozess geht voran, jetzt kann ich finalisieren.
Das ist kein Vorwurf. Das ist schlicht menschlich. Und wer das ignoriert, verliert Zeit und Nerven.
DER ANKER EFFEKT: DIE ERSTE VERSION SETZT DEN RAHMEN
Auch wenn Version eins technisch schon gut ist, wirkt sie als Anker. Der Kunde fixiert sich unbewusst auf Details, die ihm auffallen und vergleicht alles weitere damit. Das heißt: Jede spätere Version wird im Licht der ersten beurteilt. Wenn er dort etwas falsch fand, wird er später nach dem Gegenteil suchen. Manchmal sogar dann, wenn du es gar nicht geändert hast.
Die Wiederholung derselben Version kann diesen Anker auflösen. Weil sie das Gefühl von Bewegung schafft, ohne dass du tatsächlich am Material rüttelst.
DER AUTORITÄTS TRICK: DER KUNDE WILL BESTÄTIGUNG, NICHT NUR PRODUKTION
Diese Erkenntnis ist etwas unangenehm, aber sie spart dir Jahre: Kunden wollen sehr oft Bestätigung. Sie wollen hören, dass ihr Bauchgefühl richtig ist. Dass ihr kritisches Ohr wichtig ist. Dass man ohne sie nicht zum Ziel kommt. Nicht jeder Kunde bewusst, aber psychologisch ist das tief drin.
Wenn er beim ersten Mal sagt „da stimmt was nicht“, dann braucht er beim zweiten Mal nicht zwingend eine objektive Änderung. Er braucht das Gefühl, dass sein Feedback Wirkung hatte. Das ist der eigentliche Deal.
Du kannst dich darüber lustig machen oder du kannst es produktiv nutzen. Ich empfehle Letzteres… Und schreibe jetzt diesen Artikel darüber.
WAS HEISST DAS FÜR UNS ALS PRODUZENTEN UND MACHER?
Jetzt kommt der Teil, der wirklich zählt. Was machst du mit so einer Erkenntnis, ohne zynisch zu werden?
Erstens: Bau psychologische Puffer in deinen Prozess ein.
Manche Projekte brauchen zwei Runden, nicht weil dein Mix schlecht ist, sondern weil der Kunde diese Runden braucht. Kalkuliere das. Kommuniziere das. Und vor allem: nimm es nicht persönlich. OK manchmal ist es auch schwierig.
Zweitens: Schaffe bessere Abhörbedingungen.
Heute haben wir keine Abhörsituation übers Telefon mehr als Standard. Aber die moderne Variante ist ähnlich fatal: Handy Lautsprecher, Küchenradio, AirPods im Straßenverkehr. Wenn du willst, dass Feedback sinnvoll ist, gib den Leuten eine gute Hörumgebung. Biete eine Referenz an, erkläre kurz, worauf sie achten sollen. Oder mach eine Abnahme Session per Video Call, in der ihr synchron hört. Kostet dich 20 Minuten, spart dir zwei Tage Schleifen.
Drittens: Gib dem Kunden das Gefühl von Kontrolle, ohne die Kontrolle abzugeben.
Du musst nicht jeden Wunsch sofort technisch umsetzen. Manchmal reicht es, die Wahrnehmung zu adressieren. Beispiel: „Ich habe die Balance im Voice Band nochmal feinjustiert, jetzt sitzt die Sprache stabiler.“ Selbst wenn du nur 0,2 dB geändert hast. Der Kunde fühlt Prozess und kann finalisieren.
Viertens: Gib klare A B Vergleiche.
Wenn Kunden bei Versionen rumeiern, liegt das oft daran, dass sie nicht sauber vergleichen. Gib ihnen klare A B Beispiele. „Hier ist Version davor, hier ist Version danach.“ Das zwingt zu einem echten Vergleich, nicht zu einem Stimmungsurteil.
Fünftens: Erkenne Ritualkunden und spiel das Spiel professionell mit.
Es gibt Kunden, die brauchen immer zwei Korrekturen. Punkt. Wenn du das weißt, kannst du die ersten Runden strategisch leichter halten, statt alles in Version eins zu ballern. Nicht, weil du schluderst, sondern weil du die mentale Dynamik kennst. Das ist Dienstleistung auf Profi Level.
Und ganz wichtig: Biete nur 1-2 Revisonen an. Stelle klar wie oft ein Wunschkonzert abgerufen werden kann, bis zusätzliche Kosten damit verbunden sind!
WARUM DAS NICHT MANIPULATION IST, SONDERN HANDWERK
Jetzt höre ich die Moralpolizei schon schreien: „Das ist doch alles Verarsche.“ Nein. Es ist Kommunikationshandwerk. Ein Ergebnis entsteht nicht nur aus Audiospuren, sondern aus Vertrauen, Prozessgefühl, Erwartungsmanagement.
Wenn du Psychologie ignorierst, bist du keine ehrliche Seele, sondern naiv. Und Naivität kostet dich Zeit, Geld und Energie.
Ehrlichkeit heißt nicht, dass du jeden inneren Mechanismus beim Kunden offenlegst. Ehrlichkeit heißt, dass du einen Prozess führst, der zu einem Ergebnis kommt. Und dazu gehört eben, dass du verstehst, wie Menschen Entscheidungen treffen.
WENN KUNDEN SICH SELBST NICHT TRAUEN
Und noch eine Beobachtung aus der Praxis: Je weniger sicher ein Kunde ist, desto mehr Korrekturen produziert er. Nicht weil er wirklich mehr will, sondern weil er Angst hat, die falsche Entscheidung zu treffen. Und diese Angst maskiert er als Detailkritik.
Dann kommen Kommentare wie „die Stimme klingt irgendwie zu hart“ oder „die Musik müsste noch ein bisschen mehr Emotion haben“. Das fühlt sich konkret an, ist aber oft nur ein Symptom von Unsicherheit.
Wenn du das erkennst, kannst du gezielt stabilisieren. Nicht mit Technik, sondern mit Führung. „Deine Produktion wirkt jetzt genau so, wie du es wolltest: klar, hochwertig, mit Druck. Die Härte in der Stimme ist Absicht, weil sie Autorität gibt.“
Das ist kein Gelaber. Das ist Orientierung. Und Orientierung ist das, was unsichere Kunden immer brauchen.
DER MIX IST FERTIG ABER DER KOPF NOCH NICHT
Die wichtigste Erkenntnis aus dieser Radio Geschichte ist simpel: Manchmal ist dein Mix längst fertig, aber der Kopf des Kunden noch lange nicht. Und dann kannst du entweder 15 Mal an Details drehen, die objektiv nichts verändern, oder du steuerst den Prozess so, dass der Kunde innerlich ankommt.
Die Welt wäre einfacher, wenn Feedback immer nur eine Frage von Klang wäre. Ist sie aber nicht. Feedback ist eine psychologische Verhandlung zwischen Erwartung, Kontrolle, Unsicherheit und Kontext. Wer nur auf Frequenzen und LUFS schaut, hat die andere Hälfte der Arbeit nicht verstanden.
Und jetzt mal klar gesagt: Diese Mechanismen werden nicht verschwinden. Im Gegenteil. Je schneller Dinge heute gehen, je mehr Optionen es gibt und je unsicherer viele Menschen im kreativen Beurteilen sind, desto stärker greifen solche Effekte.
Wenn du das akzeptierst, bist du nicht zynisch. Du bist erwachsen im Business. Du baust Prozesse, die funktionieren. Du sparst dir Reibung. Und du lieferst am Ende bessere Ergebnisse, weil du nicht gegen menschliche Natur arbeitest, sondern mit ihr.
Die Kundensituation von damals hat mir aus Versehen eines der besten Lehrstücke meiner bisherigen beruflichen Laufbahn gegeben. Nicht über Ton. Sondern über Menschen. Und ganz ehrlich: Das ist der Teil, der dich langfristig erfolgreich macht. Nicht nur, dass du gut klingende Produktionen ablieferst. Sondern dass du verstehst, wie sie angenommen, bewertet und final freigegeben werden.
Wenn du das drauf hast, dann wirst du auch mit den anspruchsvollsten Kunden entspannt fertig. Manchmal sogar, indem du einfach dieselbe Version zweimal schickst. Zehn Minuten Abstand. Einmal fürs Ohr, einmal für den Kopf.